Offene Grenzen? Ja, natürlich!
Offene Grenzen sind nicht utopisch, sondern die Vorstellung, Migration zu verhindern. Die Forderung nach offenen Grenzen ist keine rein humanistische, sie ist unabdingbar, wenn man davon ausgeht, dass Arbeiter*innen nur mit internationaler Klassensolidarität erfolgreich gegen Ausbeutung und für soziale Gerechtigkeit kämpfen können.
Im Unterschied zu Grenzen und Nationen war Migration in der Geschichte der Menschheit immer präsent. Der Kapitalismus als jüngstes globales Gesellschaftssystem hat nicht nur feste Staatsgrenzen, sondern auch besondere Arten der Migration hervorgebracht. Einerseits entzieht er Millionen Menschen in vielen Teilen der Welt durch unkontrollierte Ausbeutung von Ressourcen oder militärische Auseinandersetzungen die Lebensgrundlage, sodass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als ihre Heimat zu verlassen. Andererseits gibt es durch die ungleiche industrielle Entwicklung unterschiedlichen Bedarf nach billigen oder gut ausgebildeten Arbeitskräften, der durch gezielte Arbeitsmigration erfüllt wird.
Migration im Interesse kapitalistischer Ausbeutung
Die Gesetzgebung im modernen Kapitalismus kontrolliert Migration, um sie für Profitinteressen nutzbar zu machen. Je nach Konjunktur heißt Kontrolle Anwerbung, Ausweisung oder Abweisung. Ausländische Arbeitskräfte bilden einen flexiblen Konjunkturpuffer – laut Marx eine industrielle Reservearmee – um Arbeitskräftemängel bestimmter Industrie- und Dienstleistungszweige auszugleichen. Kosten für ihre Ausbildung werden eingespart, da diese zum größten Teil in den Herkunftsländern erfolgt. Sie lassen sich besonders gut ausbeuten, weil sie rechtlich schlechter gestellt sind und weil sie von Ausweisung bedroht sind, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Sie sind erpressbar, weil sie leicht durch andere Kolleg*innen ersetzt werden können, wenn sie sich den Bedingungen nicht fügen.
Die „Aufnahmefähigkeit“ einer Gesellschaft ist daher keine Frage ressourcenbedingter oder kultureller Grenzen, sondern richtet sich nach den Wünschen von Politik und Wirtschaft.
Dass die geregelte Zuwanderung keine Einbahnstraße, ist zeigt sich bei den aktuellen Abschiebungen von Flüchtlingen, die eine Ausbildung in kleinen und mittleren Unternehmen begonnen haben. Hier haben sich ideologische Faktoren durchgesetzt. Die von ÖVP und FPÖ versprochene repressive Asylpolitik gegen Flüchtlinge muss erfüllt werden, auch wenn es Teilen der Wirtschaft schadet. Die Umsetzung von Maßnahmen wie dem 12-Stunden-Tag oder Kürzungen der Mindestsicherung im Interesse der Großunternehmen haben einen höheren Stellenwert als der Arbeitskräftemangel im Kleingewerbe.
Migrant*innen als Konkurrenz und Lohndrücker*innen?
Von Seiten der SPÖ und Gewerkschaft wird argumentiert, dass Migration zu Lohndrückerei und Konkurrenz am Arbeitsmarkt führt und deshalb begrenzt werden muss. Der erste Teil stimmt nur bedingt, die praktische Folgerung ist falsch.
Das Interesse der Unternehmen liegt im Streben nach höheren Profiten und Steigerung der Ausbeutungsraten der Arbeitskraft – egal ob es sich um Arbeiter*innen mit oder ohne Migrationshintergrund handelt. Trotzdem werden Unterschiede gemacht. Die Ungleichbehandlung je nach Herkunft führt zu Unterschieden im Selbstverständnis der Arbeiter*innen in Bezug auf ihre Position in der Gesellschaft – die Büroangestellte fühlt sich dem türkischen und/oder muslimischen Putzpersonal der Fremdfirma überlegen; der fest angestellte Kranführer dem (unter Umständen schwarz arbeitenden) osteuropäischen Eisenbieger aus dem dubiosen Subunternehmen. Ein kollektives Interesse entsteht nicht von allein – Argumente für gleiche Rechte müssen in jeder Gewerkschaftszeitung und auf jeder Betriebsversammlung thematisiert werden. Dabei geht es nicht nur um die unternehmensbezogenen Arbeitsverhältnisse, sondern um Arbeiter*innen insgesamt, für die es selbstverständlich sein muss, sich für die Rechte von Einwanderern einzusetzen. So wird Vertrauen bei benachteiligten Arbeiter*innen erarbeitet, die darüber das Selbstbewusstsein bekommen, sich gegen Ungleichbehandlung einzusetzen.
Arbeiter*innen verstehen sich als Konkurrent*innen – die der Forderung nach gleichen Rechten, die kollektiv gestellt wird, wirkt dem Konkurrenzverhältnis entgegen und kann es auch aufheben. Gleiche Rechte heißt aber auch unbeschränkte Aufenthaltserlaubnis für alle. Das heißt in letzter Konsequenz Nein zu Abschiebungen, Asylgesetzen und ein Ja zu Bleiberecht für alle.
Migration führt nicht automatisch zu Rassismus
Nach der breiten Solidarität mit Geflüchteten im Herbst 2015 war es nicht einfach für die Politik, die Grenzen „wieder“ zu schließen. Wir erinnern uns an Begriffe für die neu errichteten Grenzzäune wie „Tür mit Seitenteilen“ (Faymann) oder „besondere bauliche Maßnahmen“ (Mikl-Leitner) die die Hilflosigkeit gegenüber der „Willkommenskultur“ zum Ausdruck brachten.
Die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht in Köln wurden zum Anlass genommen, um das Bild einer drohenden islamischen Gefahr von außen für „unsere“ westliche Gesellschaft zu produzieren. Obwohl sexuelle Gewalt und Sexismus zum Alltag der sogenannten „westlich-zivilisierten Welt“ gehören, werden muslimische Einwanderer dafür verantwortlich gemacht.
Menschen mit Migrationshintergrund werden als kulturelle Bedrohung dargestellt, so wird möglicher Solidarisierung entgegengewirkt. Eine Studie von Forschern der TU Dresden stellte fest, dass vor allem das durch Medien geschaffene Bild der Flüchtlinge eine Ursache für den Rechtsruck ist und nicht deren Zuzug. Dieser Kulturrassismus dient dem Bollwerk der Migrationskontrolle.
Migration führt nicht automatisch zu Rassismus – es kommt darauf an, wie Politik und Medien die gesellschaftliche Stimmung beeinflussen können. Das fällt umso schwerer, je sichtbarer die Forderung nach offenen Grenzen ist und dass Menschen sind.
Sind offene Grenzen finanzierbar?
Armut, sprich fehlender Zugang zu Ressourcen, Kriege um diese Ressourcen, Unterdrückungsmechanismen ethnischer, religiöser oder genderspezifischer Art und Naturkatastrophen machen Flüchtlinge zu ständigen Begleitern des Kapitalismus. Weltweit waren 2017 fast 70 Millionen Menschen auf der Flucht. Richtig ist daher die Forderung „Fluchtursachen bekämpfen – nicht die Flüchtlinge“. Aber was tun bis zu dem Zeitpunkt, wenn Fluchtursachen beseitigt sind? Zumal dazu eine Veränderung der Gesellschaft jenseits von Profitinteressen – also jenseits von Kapitalismus – notwendig ist.
Am Anfang dieses Artikels haben wir festgestellt, dass die Grenzen für Migration einzig und allein durch Politik und Unternehmensinteressen gesetzt werden. 2015 konnten wir erleben, wie die Flüchtlingsbewegung und die daraufhin einsetzende beeindruckende Hilfe der Zivilgesellschaft diese Grenzen kurzfristig außer Kraft setzen konnte. Aber im Verlauf der Zeit rückten Argumente wie „das ist nicht finanzierbar“ oder „wenn alle kommen, dann gibt es Chaos“ in den Vordergrund.
Zuerst müssen wir festhalten, dass die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge entweder in den eigenen oder umliegenden Ländern bleibt. Sowohl aus ökonomischen Gründen, als auch mit der Hoffnung, in den alten Lebensmittelpunkt zurückkehren zu können.
Entscheidend für die Beantwortung der Frage ist, dass die finanziellen und organisatorischen Grenzen noch lange nicht erreicht sind. Österreich belegt weltweit in Sachen Reichtum Platz 17. 1% der Österreicher*innen besitzen 40,5% des Vermögens. Eine gerechte Besteuerung wäre zumindest ein Anfang, der nicht nur Flüchtlingen sondern allen Menschen ein besseres Leben garantieren würde. Für Grenzsicherung und Polizeiaufrüstung werden Millionen ausgegeben – Millionen mit denen man etwa Deutschkurse und Arbeitsplätze schaffen könnte.
Zusammenfassung
Wenn wir als sozialistische Linke das Thema offene Grenzen umschiffen, umschiffen wir nicht „nur“ die Lager in Nordafrika, die Toten im Mittelmeer, die Familien, die bei Nacht und Nebel im Nachbarhaus abgeschoben werden. Wir umschiffen Migration als Lebensrealität für echte Menschen, die rassistische Spaltung, die einen solidarischen internationalen Kampf für eine gerechtere Gesellschaft und ein besseres Leben für alle verhindert. Deshalb müssen wir das Thema Migration laut und deutlich ansprechen und die Stimme auch bei der Forderung nach offenen Grenzen nicht senken.
Es gilt, politische Chancen zu erkennen, die sich aus gesellschaftlichen Krisen ergeben. Denn Krisen produzieren Widersprüche, die Menschen für neue Ideen empfänglich machen. In den letzten Jahren waren es vor allem rassistische Akteur*innen wie die FPÖ oder die AfD in Deutschland, die davon profitierten.
Migration und Flüchtlingsbewegungen bringen weit mehr als humanistische Fragen auf die Tagesordnung. Sie bringen Arbeiter*innen aus allen Teilen der Welt mit ihren jeweiligen Erfahrungen zusammen und machen globale Ausbeutung und Unterdrückung, Kriege und militärisches Wettrüsten, Klimakatastrophen, soziale Ungerechtigkeit nicht nur in den Nachrichten zum Thema. Die Forderung nach offenen Grenzen erfordert ebenso eine konsequente Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen und die Möglichkeit und Notwendigkeit von Klassensolidarität.